Rolf Thiele über die Arbeiten von Yun-Hee Huh

Hervorbringendes Verschwinden als Zeichen für Existenz

Die Schöpferkraft des Gemüts, die zur Phantasie gehört, ist einzig den KünstlerInnen mit Lebenserfahrung eigen; wer von denen sie noch nicht hat, muss zumindest so tun „als ob“, muss sie simulieren. Denn seitdem der Mensch erkannt hat, dass er unglücklich ist, seit er dies weiß und sein Unglück nicht nur wahr gemacht, sondern auch denkend bestätigt hat, eignet die lebendige, starke fruchtbare, tätige Phantasie, so scheint es, nur noch den Kindern und KünstlerInnen. Das unglückliche Bewusstsein ist gar nicht mehr aus der Welt zu schaffen, aus der Welt zu denken. Es kommt deshalb darauf an, mit ihm, vor allem als KünstlerIn, zu leben. Das „Atmen der Seele“ darf also von dem „Gefühl der Nichtigkeit“ nicht behindert werden. Man muss dabei selbstverständlich nachdrücklich zwischen dem rein depressiven Zustand eines Subjekts und dem Empfindungsapparat einer KünstlerIn, zwischen psychischer und ästhetischer Negativität unterscheiden. Die Phantasie ist die einzige Möglichkeit, die der modernen Kunst geblieben ist, gleichzeitig negativ und positiv, schön zu sein; eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen.

Die mögliche Pointe dabei ist, dass der Gegenstand von Yun-Hee Huhs Arbeiten zwar in ihrem melancholischen Zustand zu liegen scheint, wir es dabei aber nicht mit einem authentischen Ausdruck des leidenden Zustands zu tun haben, sondern mit einer reflexiven Darstellung dieses Zustands, wie es die Zeichnungen, die malerischen Formen farbiger Zeichnungen, die Tagebuchskizzen und die großformatigen Kohlezeichnungen auf Wänden und auch ihre Gedichte anzeigen. Die Transformation des unglücklichen Leidens, ablesbar in den Sehnsuchtsmotiven ihrer Bilder und Gedichtzeilen, in das ästhetische Pathos ist der Gehalt der von ihr verwendeten Zeichen und Symbole in Bild und Schrift. Die Melancholie wird dadurch zur Bühne, auf der das ästhetische Ereignis stattfindet.

Das beinahe unerkannt bleibende Untermischen ihrer Wandzeichnungen zwischen Kritzeleien wechselnder Anwohner auf den Etagenwänden eines in Osterholz-Tenever gelegenen Hochhaus-Treppenaufgangs im Rahmen eines Studienprojekts impliziert Aspekte des Verschwindens: Untermischen als eine Form der Einmischung; eine sehr gelungene Form von Kunst im öffentlichen Raum.

Im Studien- und Kunstprojekt “Das Laotische Dorf” auf dem Gelände der “Akademie Galan“ in Südwest-Frankreich, im Department Hautes Pyrenees, Region Gascogne hat Yun-Hee Huh im Verlauf von zwei Sommern zwei Objekte errichtet. In der ersten Arbeit grub sie anfänglich ein rundes Loch in den Boden, welches in seinen Abmessungen so dimensioniert war, dass sie sich in aufrechter Kauerhaltung ihres Körpers gerade darin verbergen konnte. Den Rand dieses Loches akzentuierte Yun-Hee Huh dann an der Oberfläche mit einer bis zu 150 cm breiten rund laufenden Umrandung aus etwa faust- bis kopfgroßen rund gewaschenen Flussteinen. Danach pflanzte sie umlaufend eine Hecke aus Kirschlorbeer an der Innenseite zum Loch hin, so dass die inzwischen ca. 2m hoch gewachsene Hecke das inhaltliche Zentrum der Arbeit, das Körper bergende Erdloch, dem Blick entzog, es verschwinden ließ.

Die zweite Arbeit ist eine Hütte aus Holz, errichtet auf einem sockelhohen Fundament aus gemauerten Flussteinen, eine Art Blockhütte asiatischer Prägung und Anmutung. Das Dach ist flach und mit schweren Flussteinen deckend belegt. Die Abmessungen hat sie wiederum ihrem Körpermaß abgenommen, und zwar so, dass sie der Länge nach mit ausgestrecktem

Körper  gerade noch darin liegen kann. Yun-Hee Huh selbst nennt es ein Sarghaus. Außen um die Hütte sind in umkreisender Anordnung sechs Kirschbäume gepflanzt worden. Die Hütte ist so in die Himmelsrichtungen gestellt, dass der Kopf des liegenden Körper nach Osten weist. Der aus ihrem Körper/ Kopf  herausschauende Blick geht nach Osten, den Ländern Asiens und dem Sonnenaufgang entgegen. Ein sehnsuchtsvoller, melancholischer Blick in Richtung ihrer fernen Heimat Korea.

Es geht bei den Arbeiten von Yun-Hee Huhs, gleich welches Medium sie gerade einsetzt, zunächst immer um die Erfahrung des Verschwindens von etwas soeben noch Anwesendem, dann um die Reflexion eines solchen Verschwindens als notwendige Struktur unseres Bewusstseins: um die Unmöglichkeit einer jeweiligen Gegenwart.

Yun-Hee Huh führt solche nuancierten Facetten eines Gegenwartsverlusts paradigmatisch in ihren Performances der Hervorbringung großformatiger Wandbilder mittels Kohlezeichnung vor, welche nach ihrem ausgestellten arbeitsaufwendigen Prozess der Herstellung fortführend mit gleicher Kraft und Energie wieder mit Wandfarbe übermalt, wieder ausgelöscht werden. Lediglich der zu Boden gefallene Abriebstaub der Kohle wird als sichtbare Spur des Zeichnungsprozesses auf Zeit lesbar bleiben. Und sobald es eine Spur gibt, hat die Bedingung des „als ob“ bereits begonnen – und das ist das Unbedingte der Dekonstruktion. Ein solch performativer Akt ist in dem enthalten, lässt in das eintreten, was man Kunst nennt. Eben ein Performativ und kein Konstativ. In einem Denken, bei dem es sich um keine bloße Vermittlung und Produktion von Wissen oder Vorführung von Können, sondern um das stattfindende Ereignis handelt, leben die Zeichen länger, als das, was sie bezeichnen: ein ästhetisches Ereignis kann immer noch Zeichen geben, obwohl das Bezeichnete längst verschwunden ist; etwa so wie Werke ohne Kunst und Kunst ohne Werke grundsätzlich existieren können.

In diesen Performances taucht durch den scheinbaren Unsinn des Wiederverlöschens ganz ungefähr aus einem Nebel von Eindrücken das Nihil auf. Die vorerst beiläufigen Wahrnehmungen des Erwarteten werden durch die Wucht des Überraschtwerdens im Auslöschen des gerade eben noch Gezeichneten als Defizit des Seins um so größer. Die Empfindung beim Anblick, ob im Videofilm oder direkt bei der Aktion, der entstehenden Zeichnung, dem Hervorbringen eines Kunstwerkes, die in uns möglicherweise Träume und unbestimmte Gedanken erwecken, ist die einer großen Freude, einer Freude jedoch, die sich gleichsam nicht festhalten lässt; daher bleibt angesichts des Verschwindens der eben hervorgebrachten Zeichnung nicht nur ein vordergründiges Bedauern, sondern in unserer Seele ein großes Verlangen zurück; doch dieses Verlangen ist unsere höhere Freude, denn alles, was fest und begrenzt ist, befriedigt uns längst nicht so sehr wie gerade das Un(be)greifbare, das uns ausgangs unserer Erwartung niemals befriedigen kann.

Hier sind konstitutive Elemente einer verschwindenden Gegenwart versammelt. Ohne ein warum auch nur anzudeuten, wird die Zeichnung des Bildes dem Festhalten entrissen und man bleibt auf die erinnernde Vorstellung des Gesehenen schon während sich das Ereignis der Aktion noch zeitigt angewiesen. Die Potentialität eines „Un(be)greifbaren“, das ein seelisches Verlangen in Bewegung setzt, das konstitutionell nicht gesättigt werden kann, das sich als Situation der Freude wieder auflöst. Auflösung und ästhetische Wahrnehmung gehen also ein Bedingungsverhältnis miteinander ein. Es geht um das Gesetz jeder Art gegenwärtiger Wahrnehmung: um das Verschwundensein des Vergangenen. Und in der Rezeption ästhetischer Ereignisse haben wir stets Vergangenes vor uns, das angesichts des gegenwärtigen „Jetzt“ sowohl das Nichtmehr zeitigt als auch in die Vorstellung des Nochnicht verschwindet. Solche Reflexion des Verschwindens, nicht nur des langsamen Zurneigegehens der menschlichen Zeit, sondern meiner jetzt gerade noch anwesenden Zeitlichkeit, meiner Existenz wird ebenso wie das Verschwinden der gerade gesehenen Zeichnung nur noch mit einem visuellen Schweigen bedeckt; die Freude des hervorgebracht Gelungenen wird entglitten sein und wird so zur Anschauungsform des Entgleitens jeweiliger schöner und positiver Gegenwart.

Für den dramatischen Ereignischarakter des Verschwindens von etwas gilt es die Nuancierung der menschlichen Existenzbedingung zu betonen: Gemeint ist die Existenz einer Nichts-Erfahrung dergestalt, dass sie als plötzliches Ende vor dem Ende des Wahrnehmungs-prozesses eintritt, symbolisch gefasst als ein Tod im Leben. In dessen Zeichen steht das fortgeführte Kunstwerk (auch Leben) seitdem. Es ist kein Schritt innerhalb einer Zeitenfolge, sondern ein Zeitsprung aus der Zeitlichkeit überhaupt, nämlich aus der Zeit eines Seins in die Zeit des Nichts. Aber nicht etwa als kontemplativer Verweis auf die quintessenzielle Einsicht, dass der Tod am Ende das Leben kröne, sondern diese Vorstellungen sind als Merkmale des Lebens, der menschlichen Existenz selbst gesetzt: dass ihre Zeit, dass eine jeweilige Gegenwart sich auflöst, aufhört, überhaupt noch lebendige Zeit zu sein.

Ausgelöst durch den fließenden Verlust des Sichtbaren, greift beinahe unbemerkt die notwendige Katastrophe des Nichtverstehens Raum. Gleichzeitig geht mit diesem Empfindungseffekt des Nichtmehrsehens, der sich im ästhetischen Ereignis als zukünftige Erfahrung zeitigt, eine deutlich sichtbare Freude Yun-Hee Huhs an der Zeichnung vermittels Zeichenweise einher. Ästhetische Negativität transformiert sich hierdurch in eine Form von geretteter Lebensfreude und bildet somit jene Gegenformel des negativen Augenblicks, und das durch den Prozess der Symbolisierung, der jeder ästhetischen Erfahrung im permanent verschwindenden „Jetzt“ der Ereignisse innewohnt. Ein Umschlag im Rhythmus der ewigen Wiederkehr, ein Umschlag im Rhythmus der Unendlichkeit von der einen in die andere Qualität; Wiederholung des Immergleichen als ein Anderes.

Zeichnungen im Stile von Tagebuchnotizen unterstreichen Yun-Hee Huhs Streben, die Kunst auf das Leben zu richten und das Leben auf die Kunst zu richten, indem sie versucht fragend aufzuzeichnen, wie es war Tag für Tag und ob das Leben bedeutet. Dabei geht sie schonungslos aufs Ganze in solchermaßen organisierter Existenz und der Ausdruck ihres Zeichnens bedeutet besonders hier Zeichensetzen für Existenz. Vermutlich ist es eine große Anstrengung, dem stetigen Bemühen nachzugehen, derart im Kunstwerk das Leben zu verdichten. Aber ich bin mir sicher, dass Yun-Hee Huh dabei nicht auf die Anstrengung, sondern auf die Kraft achtet, einer Kraft, welche die Positivität des Lebens aus der ästhetischen Negativität saugt; und damit versöhnlich Trost gründend hervorbringt.

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